Liebe Leser:innen, willkommen im Cosmos!
In unserer ersten Ausgabe widmen wir uns der Social-Media-Nutzung von jüngeren Politiker:innen. Denn: Seit der letzten Wahl sind knapp 14% des 20. Deutschen Bundestags unter 35 Jahre alt. Das Parlament ist zu Beginn der Legislaturperiode mit einem Durchschnittsalter von 47,3 Jahren so jung wie noch nie. Was bedeutet das für die politische Kommunikation, den Politikbetrieb und nicht zuletzt für unsere Demokratie selbst?
Eins ist sicher: Diese neue Generation im Bundestag kennt sich mit den Herausforderungen und Chancen von Social Media aus. Die jungen Abgeordneten nutzen Soziale Netzwerke zur Selbstvermarktung, posten Fotos von Veranstaltungen im Wahlkreis und teilen die eigenen Bundestagsreden. Sie sind außerdem selbst Konsument:innen von Beiträgen, verfolgen die Feeds von Parteikolleg:innen sowie anderen Abgeordneten und informieren sich bewusst über politische Themen online. Gleichzeitig macht ihre Präsenz im Netz sie angreifbar: Sie werden Opfer von Anfeindungen und Beleidigungen, die über Tweets, Direktnachrichten oder Kommentare an sie gerichtet werden.
Wir zeigen Euch in dieser Ausgabe, wie sich junge Abgeordnete im Internet bewegen. Fünf von ihnen haben wir im Bundestag besucht und interviewt. Wir haben von ihnen erfahren, wie sie das Verhältnis von Demokratie und Öffentlichkeit und die Nutzung Sozialer Netzwerke durch Politiker:innen einschätzen. Sechs weitere haben uns ganz dicht ran gelassen - und uns Screenshots ihrer wöchentlichen Bildschirmzeit geschickt, inklusive der meistgenutzten Apps.
Außerdem werten wir aus, welche Kanäle bei der Informationsbeschaffung für MdBs besonders wichtig sind und schauen uns die besten Social-Media-Formate der bisherigen Legislatur an. Zudem betrachten wir Hass gegen Politiker:innen im Netz und wie insbesondere weibliche Politikerinnen damit umgehen. Zuletzt stellen wir Euch ein eigenes C&K Tool vor: Unseren Political Impact Score. Mit ihm messen wir automatisiert, wie viel politischen Einfluss ein Twitter-Account hat.
Politik findet 2022 im Internet statt. Es ist daher unumgänglich sich die Möglichkeiten und Herausforderungen, die damit einher gehen, genau anzuschauen, wenn man als Bürger:in oder politisch aktiver Mensch digital klug agieren will. Dieses Magazin soll Euch genau dazu befähigen.
Euer C&K Team
Stand: Juni 2022
— Cosmos meets Bundestag — Cosmos meets Bundestag — Cosmos meets Bundestag — Cosmos meets Bundestag —
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— Let’s get Started — Let’s get Started — Let’s get Started — Let’s get Started — Let’s get Started —
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— Der neue Bundestag — Der neue Bundestag — Der neue Bundestag — Der neue Bundestag —
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Social Media x Bundestag Social Media x Bundestag Social Media x Bundestag Social Media x Bundestag
Social Media x Bundestag Social Media x Bundestag Social Media x Bundestag Social Media x Bundestag
Laut des Digital News Reports des Reuters Institute for the Study of Journalism nutzen 31% aller Deutschen im Jahr 2021 Soziale Netzwerke als Nachrichtenquelle. Die Wissenschaftler:innen identifizieren Facebook, Twitter und YouTube weltweit als die führenden Plattformen, die zur Nachrichtenaufnahme ausgewählt werden. Vor allem junge Menschen verlagern ihre Nachrichtennutzung und politischen Diskussionen weltweit auf die sozialen Netzwerke.
Den Algorithmen der Plattformen sind auch politische Entscheider:innen ausgesetzt, wenn sie als User:innen auf den gängigen Plattformen unterwegs sind. Die Nutzung Sozialer Netzwerke zur Selbstinszenierung und Öffentlichkeitsarbeit von Abgeordneten im Bereich der politischen Kommunikation findet in journalistischen und wissenschaftlichen Arbeiten in hohem Maß Beachtung. Der Einfluss von Sozialen Medien auf die Informationsbeschaffung von MdBs ist bisher weniger untersucht.
Das ist beachtlich, da das Aufnehmen und Filtern von Informationen das Fundament politischer Entscheidungen bilden. Es ist daher nicht nur relevant, wie Informationen aufgenommen und verarbeitet werden, sondern auch, welche Einflussfaktoren diesen Prozess prägen.
Ich habe mich für meine Masterarbeit mit diesem Thema beschäftigt. In sieben qualitativen Interviews mit MdBs unter 35 Jahren habe ich untersucht, wie sie sich auf Sozialen Netzwerken informieren. Ich habe mich für meine Masterarbeit mit diesem Thema beschäftigt. In sieben qualitativen Interviews mit MdBs unter 35 Jahren habe ich untersucht, wie sie sich auf Sozialen Netzwerken informieren.
Herausgekommen ist, dass besonders Twitter im Kreis der jungen Abgeordneten eine relevante Quelle der Informationsbeschaffung ist. Die Accounts werden zum großen Teil selbst gepflegt und Diskussionen unter Tweets verfolgt. Insbesondere Twitter-Accounts von Journalist:innen als auch Accounts der politischen Kolleg:innen, die viel Reichweite haben, finden Gehör. Twitter gilt als besonders relevant beim Nachrichten-Screening, da ein hoher Aktualitätsbezug gegeben ist.
Newsletter, Meldungen aus den Fraktionen, wissenschaftliche Dienste, klassische und Soziale Medien sind die Hauptinformationsquellen. Twitter, Facebook und Instagram sind hierbei die am häufigsten genutzten Informationskanäle unter den Plattformen. Die befragten Abgeordneten schätzen laut eigener Angabe den Anteil der Nachrichtenerfassung über herkömmliche Medien (wie Zeitungen, Radio und TV) und Soziale Medien als ausgeglichen ein.
Auch Entertainment nehmen die Politiker:innen als Informationsquelle wahr. Hiermit sind beispielsweise kurze Videos oder Memes gemeint, die zunächst Aufmerksamkeit erzeugen und zusätzlich Inhalte und Informationen vermitteln.
Daneben werden auch LinkedIn, YouTube, TikTok und Spotify Podcasts bei der Informationsaufnahme im parlamentarischen Kontext berücksichtigt.
Nationale Themen und Themen, die den Wahlkreis betreffen, sind besonders wichtig.
Was Formate angeht, nimmt man auch kurze Videos oder Memes ‘ernst’, wenn es um relevante Themen geht.
Soziale Medien beeinflussen andauernd den Informationsstand und deswegen auch die parlamentarische Arbeit.
Wenn Abgeordnete viel getaggt werden, werden diese Beiträge an die richtige Stelle im Team geleitet. Auch innerhalb der Fraktionen werden bestimmte Botschaften weitergetragen, wenn sie auf Social Media trenden und viral gehen.
Konkrete Recherchen zu allgemeinen Themen, eigenen Schwerpunktthemen und Stimmungen werden auf den Sozialen Medien ebenso betrieben. Dabei wird insbesondere Verbänden und Vereinen aus den Wahlkreisen gefolgt.
Posts zu Schwerpunktthemen der Abgeordneten gehen in die Vorbereitung auf die nächste Ausschusssitzung mit ein.
Gegenargumentationen werden gescannt, um diese in Vorbereitung auf Reden antizipieren zu können.
Vor allem Tweets mit langen Threads und provokante Zitat-Kacheln
Dynamischer Content mehr als statischer Content
Interessant gestaltete Grafiken
Virale Threads bei Twitter
Snackable Content: 3-4 Stichpunkte, die eine komplexe Lage in einem Sharepic zusammenfassen: Texte auf Kacheln und Karussells
Feedback von Bürger:innen unter den eigenen Posts und Direct Messages
Soziale Medien bestimmen andauernd den Informationsstand von MdBs und haben deswegen einen enormen Einfluss auf die parlamentarische Arbeit. Der hohe Grad an Aktualität und Relevanz, der durch Soziale Medien vermittelt wird, ist ganz klar ein Grund, warum Abgeordnete diese nutzen. Das Abgeordnetenbüro und die Fraktion können nicht so aktuell sein wie Twitter, Instagram und Co.
Dabei gilt: Auch Entertainment ist eine Informationsquelle. In der digitalen politischen Kommunikation ist es notwendig, diese Dimensionen zu berücksichtigen und zu versuchen insbesondere durch strategisches Taggen von Abgeordneten und das Setzen und Nutzen von Trends, politische Akteur:innen zu erreichen. Natürlich reagieren MdBs nicht auf jeden Twitter Rant. Dafür herrscht zu viel Hass und Hetze auf den Plattformen. Informationen sollten kurz und knapp auf die wesentlichen Aspekte heruntergebrochen werden, damit sie im besten Fall von Abgeordneten in die nächste Ausschusssitzung eingebracht werden können.
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17 Seiten Koalitionsvertrag muss man lesen, um zu wissen, was die Ampelkoalition auf ihrer digital-politischen Agenda stehen hat. Oder man wirft einen Blick auf die LinkedIn-Slideshow von Tobias Bacherle.
Slideshows auf LinkedIn sind das Pendant zu den Instagram-Karussells: Die ideale Möglichkeit, mit wenig Ressourcen viel Information aufzubereiten, ohne die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen zu verlieren. Auf sieben Kacheln erklärt Bacherle prägnant in Stichworten, wie die Digitalisierung in den nächsten 4 Jahren vorangetrieben werden soll – während wir nach 17 Seiten Koalitionsvertrag die Präambel mutmaßlich bereits wieder vergessen haben.
Über Design lässt sich streiten, aber der Start ist gut gemacht: Sowohl die Verbindung zum Koalitionsvertrag als auch Bacherles Parteizugehörigkeit werden klar. Das Branding ist auf den ersten Blick ersichtlich. Das Format bietet einen tatsächlichen informativen Mehrwert, was in Anbetracht der Fülle und Geschwindigkeit, in der Nachrichten auf Social Media erscheinen, ein echter Vorteil ist. Und zu guter Letzt ist das Slideshow-Format auf LinkedIn aktuell noch relativ neu und wenig etabliert, sodass eine durchdachte Nutzung direkt auffällt.
Hier stimmt vieles, was oft unterschätzt wird: Konsistentes Branding, kurzer Text. Ersteres, um die Aufmerksamkeit der Nutzer:innen zu bekommen, letzteres um sie nicht direkt wieder zu verlieren.
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Zwar neu im Bundestag, aber auf keinen Fall neu in der Politik: Ria Schröder! Wöchentlich am Freitag präsentiert sie auf Instagram ihre Sicht auf die vergangene Sitzungswoche. Hier bekommen auch User:innen ohne politisches Wissen vermittelt, wie der Alltag im Bundestag abläuft und wie Ria Schröder zu verschiedenen Themen steht.
Wochenrückblicke von MdBs gibt es zuhauf, Ria Schröders Version kennt aber die eigene Zielgruppe, denn sie redet, als würde sie ihren Freund:innen von ihrer Woche erzählen. Sie wirkt locker und ungezwungen, was zusammen mit ihrer positiven Ausstrahlung ein überzeugendes Gesamtbild ergibt.
Short and sweet: In rund 60 Sekunden weiß ich, was in der gesamten letzten Woche passiert ist und weshalb das für mich relevant ist. Die Hintergrundmusik trägt zum authentischen und lockeren Gesamteindruck bei, Zoom-ins und schnelle Schnitte bringen einen Hauch TikTok auf Instagram. Wenn jetzt nur noch untertitelt würde.
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Erik von Malottki ist seit Oktober 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags und spätestens seit November den meisten Lobbyist:innen in Berlin ein Begriff. Der Grund: In einem auf Twitter veröffentlichten Video durchforstet er seine zahlreich eingegangenen Postsendungen und stellt fest: „Leider ist ganz viel davon Lobbypost”. Öffentlich wirksam liest der SPD Abgeordnete u.a. aus einer Einladung der Tabakwirtschaft vor und schiebt die Anschreiben anschließend in den Papierschredder.
Als Bundestagsabgeordneter bekomme ich schon jetzt sehr viel Post. Von wem diese Post kommt und was ich damit mache, seht ihr im Video. #Unbestechlich #Lobbypost pic.twitter.com/ODwaNKAXYZ
— Erik von Malottki (@erikvonmalottki) November 10, 2021
Als Abgeordneter einer neuen und jüngeren Generation setzt Erik von Malottki ein aufmerksamkeitsstarkes Zeichen gegen den informellen Einfluss von Lobbyist:innen. Im Jahr von Maskendeals und der Aserbaidschan-Affäre traf das Video zusätzlich einen Nerv und erfährt unter den Hashtags #Lobbypost und #unbestechlich viel Zustimmung.
Kurze Schnitte inkl. Memes und eingeblendeten Quellennachweisen erinnern an Rezo. Der Auftritt von Erik von Malottki wirkt authentisch und humorvoll und seine Antworten auf die zahlreichen Kommentare unterstreichen die Glaubwürdigkeit seiner Haltung.
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Kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges reiste Robert Habeck unter anderem nach Katar, um schnell Alternativen zu russischen Energieimporten auf den Weg zu bringen. Nach den offiziellen Treffen berichtete er in einer etwa 2-minütigen Videobotschaft vom Verlauf der Gespräche.
Warum diese Reise jetzt? Bundesminister Habeck äußert sich zu seinem Besuch in Katar. pic.twitter.com/inXhkz6d0U
— Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (@BMWK) March 20, 2022
Das Video sticht in zweierlei Hinsicht hervor und trägt damit verstärkt zur Authentizität bei: Inhaltlich verzichtet Habeck auf „typische Politiker:innensätze“ und technokratische Formulierungen. Er spricht nicht nur von Erfolgen, sondern auch von Dilemmata, gerade im Bezug auf die Menschenrechtslage. Er greift präventiv inhaltliche Gegenargumente auf – die argumentative Struktur ist insgesamt konsistent, aber vom Stil her lebensnaher und organischer.
Gleichzeitig kommt dieses Video ohne Design-Elemente aus. Habeck und seine Botschaft stehen zu 100% im Vordergrund, die Botschaft entstand ohne Zweifel „on the ground“ und steht für sich.
Das Ziel des Videos ist nicht primär, die Zuschauer:innen inhaltlich zu überzeugen; vielmehr gelingt es dem Video, Verständnis für die Position und Handlung des Ministers zu schaffen.
Das Video ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass selbst offizielle Regierungskommunikation gut ohne überproduzierte Videos auskommen kann. Einfach ausgedrückt handelt es sich hier um ein typisches „Talking Head“-Video, wie wir es seit vielen Jahren von YouTube kennen.
Habeck spricht direkt in die Kamera, ist gut ausgeleuchtet und im Fokus. Die Einstellung mit Habeck und die dazugehörige Tonspur bilden den Schwerpunkt des Videos; weitere Aufnahmen und Fotos werden punktuell verwendet, um Momente zu kaschieren, in denen Habeck entweder neu ansetzt, ein Schnitt erfolgt oder eine andere Einstellung gewählt wird. Damit wird das Video zusätzlich aufgelockert. Die Untertitelung des Videos ist plattformspezifisch, sorgt für Barrierefreiheit und erhöht die organische Reichweite.
Bonus: In der zweiten Hälfte des Videos sind Flugzeuggeräusche zu hören; ohne gutes Tonequipment hätte Habeck den Take nochmal neu aufnehmen müssen. So hingegen konnten sie die Aufnahme fortführen und es als Hintergrundgeräusch nutzen.
Bürger:innen und Wähler:innen haben die Möglichkeit, sich mit ihren Belangen und Meinungen direkt und ohne Umwege an politische Entscheidungsträger:innen zu richten. Du hast Herrn Habeck etwas mitzuteilen? Mit einem Klick ist deine Nachricht in seinen Insta-DMs! So können User:innen täglich politische Diskurse und Entscheidungen mitbewegen. Durch Twitter, Instagram, Facebook und Co. haben wir die Möglichkeit, demokratische Teilhabe nicht nur alle Jahre wieder in der Wahlkabine zu leben, sondern wann und wo wir wollen. So viel Herrschaft des Volkes war noch nie.
Das Konzept der freien Meinungsäußerung im Digitalen bringt nämlich seine Tücken mit sich: Nicht jede:r hält sich an die demokratischen Grenzen dieses Rechts. Hate Speech und andere Formen digitaler Gewalt sind die gefährliche Folge. Gerade Personen, die sich an digitalen politischen Diskursen beteiligen, wie z. B. Politiker:innen, Journalist:innen oder Aktivist:innen werden zur Zielscheibe im Netz. Besonders betroffen von ungefilterten und menschenverachtenden Hassbotschaften sind marginalisierte Gruppen, darunter LGBTQIA+-Personen, BiPoC, Muslim:innen, Jüd:innen und Frauen. Tendenz der Gefahr: steigend.
Diese Entwicklung beobachtet auch die Grünen-Politikerin Tessa Ganserer, die seit 2021 Mitglied des Bundestages ist: “Hate Speech im digitalen Raum hat in den letzten Jahren massiv zugenommen”, sagte sie uns in einem Interview. Seit ihrem Antritt im Oktober letzten Jahres musste die Bundestagsabgeordnete bereits zahlreiche Attacken auf digitalen Plattformen aushalten, die sich vor allem gegen ihre Transgeschlechtlichkeit richten. “Seit meinem Coming-out erlebe ich regelmäßig Häme, Spott und Hass. Das hat in dem Maße zugenommen, in dem eben auch klassische Medien über mich berichten. Jedes Mal, wenn zum Beispiel eine Zeitung mit großer Reichweite einen Artikel über mich veröffentlicht, kann ich die Uhr danach stellen, dass mich auch Hass-Nachrichten erreichen”, erzählt sie uns.
Ganserers Fall zeigt: Steigende Prominenz führt gerade bei politisch aktiven Frauen zu vermehrtem digitalen Hass. “Menschen sollen mundtot gemacht und aus dem öffentlichen Diskurs gedrängt werden”, glaubt die Politikerin. Somit haben gewaltvolle digitale Angriffe nicht nur negative Auswirkungen auf die Betroffenen, sondern auch auf die Gesellschaft.“Hate Speech im digitalen Raum ist ein erhebliches Problem für unsere Demokratie, wenn dadurch Menschen zum Schweigen gebracht werden”, glaubt die Politikerin. Sie fordert daher, dass Hate Speech konsequent geahndet wird, gleichzeitig aber auch Gesellschaft und Öffentlichkeit über dieses gravierende Problem aufgeklärt werden.
Die Verantwortung für die Entwicklungen digitaler Gewalt sieht Tessa Ganserer neben der Politik insbesondere bei Facebook und Co. “Die Plattformen haben in den letzten Jahren selber viel zu wenig gegen digitale Gewalt unternommen”, sagt sie. Deswegen sei es notwendig, dass die Politik mit einem entsprechenden Gesetz gegen digitale Gewalt einerseits Betroffene besser schützt und andererseits die Plattformen stärker in die Pflicht nimmt. In einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Landecker Digital Justice Movement stellen 80 % der Befragten den Plattformen ein Armutszeugnis beim Umgang mit digitaler Gewalt aus.
Den Plattformen werden Intransparenz, unverständliche Antworten und fehlende Reaktion vorgeworfen. Fast die Hälfte der Befragten, die von digitaler Gewalt betroffen waren, bemängeln, dass die Plattformen nichts gegen die Gewalt unternehmen würden. Die Meldeprozesse sind nicht nur undurchsichtig, sondern führen auch nur selten dazu, dass Nutzer:innen-Rechte durchgesetzt werden. Verfasser:innen von Hassnachrichten müssen selten mit Konsequenzen der Plattformen rechnen.
Tessa Ganserer will jedenfalls nicht auf eine Reaktion der Plattformen warten, wenn es um die Verletzung ihrer Rechte durch digitale Gewalt geht: “Alles, was in meinen Augen strafrechtliche Relevanz hat, bringe ich konsequent zur Anzeige.”
Das Einleiten rechtlicher Schritte bei digitaler Gewalt kann jedoch auf Betroffene überfordernd wirken. Viele fühlen sich verunsichert und stellen infrage, ob ein Hasskommentar einfach mal auszuhalten ist oder schon als Straftat gilt. Die Organisation HateAid hilft Betroffenen digitaler Gewalt und bietet ihnen ein kostenloses Beratungsangebot und Möglichkeiten zur Prozessfinanzierung. Menschen, die online Hass und Hetze erleben, die beleidigt, verleumdet oder bedroht werden, können sich an HateAid.org wenden.
Aber was macht es so schwierig, im Falle digitaler Gewalt, erfolgreich rechtliche Schritte einzuleiten? Anna-Lena von Hodenberg, die Geschäftsführerin der Organisation HateAid glaubt, dass die Gesetzgebung in Deutschland sowie die Definition der Strafbestände bereits weitgehend gegeben und ausformuliert seien. Doch diese Gesetze alleine reichten nicht aus. Das eigentliche Problem sieht sie in dem nicht ausreichend geschulten Personal in den Behörden. Das Fehlen von Menschen, die diese Gesetze durchsetzen, sei das eigentliche Problem:
“Wir haben im Grunde tolle Gesetze, aber wir haben zu wenig Strafverfolgungsbehörden, die sich im Digitalen auskennen und diese Gesetze durchsetzen”, sagt von Hodenberg. Die fehlende Sensibilisierung für digitale Gewalt führe dazu, dass betroffene Politiker:innen von Polizeibeamt:innen bspw. den Tipp bekämen, weniger provokanten Content zu posten oder eben ihren Account zu löschen. “Es ist natürlich nicht gut, wenn man einer Politikerin sagt: ‘Löschen Sie einfach ihren Facebook-Account’, denn so werden sie noch weiter zum Schweigen gebracht”, meint die Expertin. Zu schulen seien neben den Polizeibehörden auch die Staatsanwaltschaften und die Richter:innen.
Dass auch auf der Ebene der Justiz die Sensibilisierung fehlt, zeigt der Fall der Grünen-Politikerin Renate Künast. Sie hatte mit der Unterstützung von HateAid rechtliche Schritte wegen einer Beleidigung gegen ihre Person in den Sozialen Medien eingeleitet. In ihrem Fall entschied das Landgericht in Berlin zunächst, dass die Verwendung der Bezeichnung “Du D****-F***” gegen sie von dem Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt sei und sich eine deutsche Politikerin in diesem Fall so nennen lassen müsse. Eine Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht Anfang des Jahres revidierte und Künast in dieser Sache schließlich Recht gab.
Auch Anna-Lena von Hodenberg findet, die Meinungsfreiheit sei ein sehr wichtiges und hohes Gut. Die Zweischneidigkeit dieses Rechts versuche sie in ihrer Arbeit zu unterstreichen.
“Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass ich einfach alles sagen kann, was ich will, sondern Meinungsfreiheit bedeutet auch, dass Menschen sich trauen können, Dinge zu sagen, die sie gerne sagen wollen – ohne dabei Angst um ihre Sicherheit zu haben”, erläutert sie. Denn ungefähr 50 % der Internetnutzer:innen trauten sich nicht mehr, ihre politische Meinung im Netz zu äußern, weil sie Angst hätten, dass sie angegriffen werden.
Gerade marginalisierte Gruppen müssen besonders häufig Beleidigungen und gewaltvolle Drohungen unter dem Argument der Meinungsfreiheit aushalten. Die Vermeidungsstrategie vieler: Sich aus politischen Diskursen fernhalten, um sich selbst zu schützen. Frauen, die bspw. auf anderen Accounts beobachten, was andere bei Diskussionen um feministische Themen aushalten müssen, trauen sich gar nicht erst, sich online zu diesen Themen zu äußern.
“Was ist mit der Meinungsfreiheit drjenigen, die eben eingeschüchtert werden, die sich jetzt eben in diesem Raum nicht mehr trauen, ihre Meinung zu sagen?”, fragt Anna-Lena. Sie sagt, die Meinungsfreiheit sei immer eine Abwägung unterschiedlicher Interessen – zwischen dem, was man sagen möchte einerseits und Persönlichkeitsrechten andererseits. Dies sind rechtliche Fragen, deren Verantwortung weiterhin bei der Politik, den Plattformen und den rechtlichen Behörden liegt.
Tessa Ganserer rät: “ Wir können alle in unserem Wirkungskreis darüber reden und andere Menschen darüber aufklären, warum digitale Gewalt ein so ernstzunehmendes Problem für die Demokratie ist.” Die Politikerin macht auch deutlich, wie sehr ihr die Solidarität anderer User:innen Kraft gegeben hat, wenn es mal wieder zu einer Welle von Hassnachrichten kam. Solidaritätsbekundungen zeigten den Betroffenen, dass sie nicht allein sind, die “Hater” nicht die Mehrheit sind und sie nicht gewinnen werden. “Solidaritätsbekundungen zeigen mir, dass Liebe stärker ist als Hass und dass die, die am lautesten und hässlichsten brüllen, nicht automatisch in der Mehrheit sind.”
Wir alle können gemeinsam dafür einstehen, die Sozialen Medien zu einem Ort werden zu lassen, in dem wir Solidarität und Demokratie leben. Wie könnte eine solche Utopie einer sicheren digitalen Demokratie aussehen?
Anna-Lena von Hodenberg beschreibt sie wie folgt: “Dort sind Algorithmen der Sozialen Netzwerke transparent, Rechte von Nutzer:innen werden bedacht, Betroffene bekommen schnelle Unterstützung, Strafverfolgungsbehörden gehen sensibel mit dem Thema um und wir haben eine starke Zivilgesellschaft, die nicht wegschaut.”
neuen MdBs?